4. Baustein: Aufarbeitungsprozesse in der Pflegekinderhilfe

In Anlehnung an die „Empfehlungen für Aufarbeitungsprozesse in Institutionen“ (2019) der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gehört zu einem Schutzkonzept, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wann und wie unter Beteiligung von externen Expert*innen eine Aufarbeitung von (sexualisierter) Gewalt, Übergriffen, Machtmissbrauch oder Verfehlungen in der Pflegekinderhilfe notwendig ist. Dabei ist eine Aufarbeitung grundsätzlich von einer internen organisationalen Fallanalyse zu unterscheiden, die zum professionellen Alltag in Jugendämtern gehört und zumindest am Ende jedes Verfahrensplans stehen sollte (siehe Baustein 3).

 

Ausgangspunkt von „Aufarbeitungsprozessen“ ist das Recht der Betroffenen, dass die verantwortliche Organisationsstruktur sich einer externen Analyse unterstellt und diese finanziert:

 

  • um den Betroffenen möglichst weitgehend transparent zu machen, wie es zu der Verletzung der persönlichen Rechte kommen konnte,
  • um Wissen und Zusammenhänge aufzubereiten, damit Entschädigungsansprüche geprüft und -verpflichtungen deutlich werden sowie
  • um Ansatzpunkte für Schutzkonzepte herauszuarbeiten, um zukünftig vergleichbaren Verfehlungen gegenüber Schutzbefohlenen vorzubeugen.

 

Aufarbeitungsprozesse sind zwingend erforderlich, wenn die persönlichen Rechte von Schutzbefohlenen nachhaltig verletzt wurden und es für die Betroffenen gegenwärtig, zukünftig oder im späteren Lebensalter unklar bleiben könnte, wie es zu Verfehlungen kommen konnte. Betroffene haben auch ein Recht darauf zu erfahren, wer sich der Verantwortung zu stellen hat. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn es Anzeichen für Vertuschungen gibt und/oder frühere (auch verjährte) oder aktuelle strafrechtlich relevante Verfehlungen vorliegen. Aufarbeitungsprozesse können sich demnach auf aktuelle Fälle sowie auf „Altfälle“ beziehen.

 

4.1 Feldspezifische Handlungsrahmen für jede Aufarbeitung

Die Landesjugendämter erarbeiten einen Handlungsrahmen für Aufarbeitungsprozesse in der Pflegekinderhilfe. Dieser enthält Kriterien, wann und unter welchen Bedingungen eine externe Aufarbeitung erforderlich ist.

  • Kooperation: Das jeweilige Jugendamt hat die Pflicht in Zusammenarbeit mit dem Landesjugendamt nach diesen Kriterien zu prüfen, ob sie eine Aufarbeitung durchführen muss.
  •  Externe Expert*innen: Externe Expert*innen legen ein Konzept für die Aufarbeitung vor und werden entsprechend finanziert.
  •  Datenschutz und Finanzen: Das Landesjugendamt ist verpflichtet mit dem Jugendamt die datenschutzrechtlichen und finanziellen Fragen zu klären, die vorhandenen Akten aufzubereiten sowie das Jugendamt beraterisch (z. B. im Umgang mit der Öffentlichkeit) zu unterstützen.

 

4.2 Berücksichtigung der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe

Bisherige Empfehlungen zu Aufarbeitungsprozessen beziehen sich in erster Linie auf einzelne Organisationen. Die Pflegekinderhilfe ist eine komplexe Infrastruktur aus privaten und öffentlichen Instanzen sowie Einzelpersonen mit unterschiedlichen öffentlichen Aufträgen.

  • Verantwortlichkeiten: In den Aufarbeitungsprozessen sind die Verantwortlichkeiten unter den Beteiligten transparent zu klären.
  •  Beteiligtenanalyse: Es ist mitunter von einem Geflecht unterschiedlicher Betroffenheiten, Täter*innen und Beziehungen auszugehen, das differenziert zu analysieren ist.
  • Folgenabschätzung und individuelle Rechte: Die unterschiedlichen persönlichen Rechte und Folgen der Aufarbeitungsprozesse für das Alltagsleben (Familien, biographische Dimension für junge Menschen etc.) der involvierten Personen sind zu reflektieren und die Beteiligten entsprechend zu beraten und begleiten.
  •  Dokumentation: Alle Aufarbeitungsschritte sind zu dokumentieren und die Ergebnisse so aufzubereiten, dass sie insbesondere auch für die Betroffenen nachvollziehbar sind.

Das Jugendamt stellt sicher, dass beim Aufarbeitungsprozess alle Betroffenheiten und Beteiligten der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe berücksichtigt und ihre persönlichen Rechte respektiert werden.

 

4.3 Erarbeitung eines betroffenenkonzeptes (einschl. BetroffenenCoaches)

An erster Stelle des Aufarbeitungsprozesses stehen die persönlichen Rechte der Betroffenen. Teil des Handlungsrahmens für Aufarbeitungsprozesse des Landesjugendamtes muss daher die kontinuierliche Berücksichtigung, Klärung der Rechte und Wünsche der Betroffenen in der Aufarbeitung sein.

  • Betroffenencoach: Es wird festgehalten, dass den Betroffenen zumindest eine externe unabhängige Betroffenenberatung sowie -begleitung (Betroffenencoach) und Rechtshilfe zugesagt und finanziert wird, die auch nicht der externen Organisation angehören, die die Aufarbeitung der Pflegekinderhilfe durchführt. Für die Betroffenen ist es grundlegend, dass sie diese Vertretungsstruktur in den Aufarbeitungsprozessen haben, da nur so Machtasymmetrien nicht erneut reinszeniert, sondern zumindest reguliert werden können.